Schmetterling - Abschnitt 12

Mit dem Seufzer Achja! ließ er sich in voller Sitzbreite auf den Stuhl niedersinken, wo der Beutel drauf lag. Keinen Ton gaben sie von sich, die armen Vöglein. Er merkte auch nichts, sondern saß friedlich da mit halbgeschlossenen Augen, und als ich ihm ängstlich mitteilte, daß fast sein ganzer Singverein unter ihm läge, sprach er langsam und seelenruhig: “Dann pfeifen’s nimmer, das weiß ich gewiß!” “Na!” rief ich. “So bleibt meinetwegen sitzen bis Ostern übers Jahr. Wünsch’ angenehme Ruh!”

Das alte Kanarienweibchen hatte sich ihm frech auf den Kopf gesetzt und pickte an dem Quast seiner Zipfelmütze. So verließ ich die zwei. Am Ende des Orts war ein stattlicher Neubau im Werden. Drei Zementtonnen lagen da; aus zwei derselben schaute je ein Paar Stiefel hervor. Ein einziger Maurer stand auf der Leiter mit dem Lot in der Hand und visierte lange mit großer Genauigkeit. Hierbei entglitt ihm die Schnur. Langsam stieg er herab; langsam wickelte er sie auf; langsam stieg er wieder nach oben. Als er bis zur Mitte der Leiter emporgeklommen, entfiel ihm das Lot zum zweiten Male. Er nahm eine Prise, sah in die Sonne, wartete fünf Minuten vergeblich auf die Wohltat des Niesens, stieg langsam herab, machte Schicht und alsbald schaute auch aus der dritten Tonne ein Paar Stiefel hervor. Um alles dies mit Muße in Betrachtung zu ziehn, hätt” ich auf einem Steinhaufen Platz genommen. Ein Hausierer, der einen Packen mit Wollwaren trug, setzte sich zu mir. “Merkwürdiger Ort, dies Dösingen!” fing er an. “Den Flachsbau haben sie längst aufgegeben; war ihnen zu langweilig. Flicken die Schweinställe mit den Hecheln, die Zacken nach innen gekehrt; Rüsseltiere wühlten sonst immer die Wände durch; Gänsezucht vorherrschend.

Jetzt, der Bettfedern wegen. Bequeme Leute; wenn sie gähnen, lassen sie meist gleich das Maul offen fürs nächste Mal. Hier verkauf’ ich die meisten Nachtmützen.””Was wird denn das für ein Haus da?” fragte ich. “Trottelheim. Der reiche Schröpf läßt’s bau’n, der Klügste im ganzen Dorf, seit er das große Los gewann. Diese wohltätige Anstalt, pflegt er zu sagen, ist nicht bloß für andere, sondern eventuell auch für mich, nach meinem Tode natürlich; denn sagte er, wenn man auch als gescheiter Kerl stirbt, man weiß nie, ob man nicht als Trottel wieder auflebt.” Der Hausierer erhob sich. Ich erhob mich gleichfalls und fragte ihn, wie das nächste Dorf hieße. “Juxum!” gab er zur Antwort. “Lustiges Nest.” Schon von weitem konnte man sehn, daß es ein fröhliches Dörfchen war. Die Saaten standen üppig; auf jeder Blume saß ein Schmetterling; in jedem Baum saß ein zwitscherndes Vöglein; rot schimmerten die Dächer und hellgrün die Fensterläden. Ein munterer Greis gesellte sich zu mir. Auf meine Frage, wie er es angefangen, so alt zu werden, erwiderte er schmunzelnd: “Regelmäßig weiterleben ist die Hauptsache. Ich esse, trinke, schlafe regelmäßig, und wenn meine Frau stirbt, so heirate ich regelmäßig wieder. Jetzt hab’ ich die fünfte. Ich bin der Bäcker Pretzel. Dort liegt das Wirtshaus. Gleich komm’ ich nach.” Auf Grund meiner Ersparnisse in der Mühle konnt’ ich mir schon was erlauben. Ich kehrte ein. Da der lange Stammtisch, bis auf den Ehrenplatz, schon besetzt war, drückt’ ich mich auf die Bank hinter der Tür.

“Frau Wirtin!” sprach ich bescheiden. “Ich hätte gern ein Butterbrot mit Schlackwurst.””Schlackwurst? Das glaub’ ich schon. Schlackwurst ist gut!” rief laut lachend die dicke Wirtin. “Aber unsere Schlackwurst, mein Schatz, die essen wir selber!” Dieser Scherz erregte bei der anwesenden Gesellschaft das herzlichste Gelächter. Alle bestätigten es, daß die Schlackwurst sehr schmackhaft, ja die Königin unter den Würsten sei. Da die Wirtin ferner erklärte, sie habe es sich zur Regel gemacht, auch ihre Butter lediglich selbst zu genießen, so mußt’ ich mit einem Stück Hausbrot und einem kleinen Schnäpse vorliebnehmen. Die Schwarzwälder Uhr hakte aus, um fünf zu schlagen.
“Gleich wird Bäcker Pretzel kommen! bemerkte die Wirtin. “Seit nun bereits fünfzig Jahren, präzis um Schlag fünf, setzt er sich hier auf seinen Platz und trinkt regelmäßig seine fünf Schnäpse.” “Das ist wie mit den ewigen Naturgesetzen!” erklärte der schnauzbärtige Förster. “Nicht wahr, Herr Apotheker?”
“Jawohl!” bestätigte dieser. “Man weiß, wie’s war, also weiß man, wie’s kommt. Was sagt Ihr dazu, Küster?”

nach oben