Eduards Traum - Abschnitt 9

Ich sah sie, ich sah sie leibhaftig, die hohen Forscher, ich sah sie sitzen zwischen ihren Mikroskopen, Retorten und Meerschweinchen; ich erwog den Nutzen, den Vorschub, den berechtigten Stolz und alles, was ihnen die Menschheit sonst noch zu verdanken hat, und in gedrückter Ehrfurcht verließ ich die geheiligten Räume. Aber ein Kritiker – denn Flöhe gibt’s überall – sagte zu einem anderen, mit dem er vorüberging: “Da drinnen hocken sie, Zahlen im Kopf, Bazillen im Herzen. Alles pulverisieren sie: Gott, Geist und Goethe. Und dann die Besengilde, die gelehrte, die den Kehricht zusammenfittchet vor den Hintertüren der Jahrtausende.” – “Siehst du das Fuhrwerk da? Siehst du den Ziegenbock, der jeden Morgen sein Wägelchen Milch in die Stadt zieht? Sieht er nicht so stolz aus, als ob er selber gemolken wäre?” Ich flog ins Museum, in die Verpflegungsanstalt für bejahrte Gemälde und als ich sie mit Verständnis besichtigt hatte, begab ich mich nebenan in die Bilderklinik, wo die Bresthaften geflickt und kuriert werden. “Restauriert und überlackiert!” so seufzte ein würdiger Kunstfreund. “Und wenn’s gut geht, ein paar geistige Pinselhaare bleiben immer drauf kleben!” Wie? dacht’ ich. Soll denn Tobias seinen alten Vater nicht salben, der blind ist? Soll denn eine liebende Enkelin ihre gute Großmutter nicht schminken, wenn sie runzlicht geworden? Und für alle Fälle, was Neues gibt’s auch noch. Wo hängt es? Im Kunstverein.

Witsch! war ich da. Der Anblick, der mir zuteil wurde, steht unauslöschlich in meiner Seele geschrieben. Alles mußt’ ich loben; das herbe Elend, wie es leibt und lebt; die anregenden Visionen der Mystik; ja, beinahe auch die anziehenden Gestalten der Frauenwelt, die so unbefangen dastanden, obgleich sie aus der Überschwemmung der Kleider nichts weiter als das nackte Leben gerettet hatten. Jedoch leider traf ich auch hier wieder störende Leute, denen die Tätigkeit ihrer kunstfertigen Mitmenschen nicht recht war. So ein ruppiger alter junge schnüffelte an allen Bildern herum und suchte nach Zweideutigkeiten, um sich sittlich zu entrüsten. Man nannte ihn den “Mann mit der schmutzigen Brille”, weil er überall den Unrat wittert, den er mitbringt. Und noch ein anderer war da mit einem Gesicht so boshaft, wie das eines tausendjährigen Kolkraben, der im Reviere das entscheidende Wort führt.
“Nichts als Quark!” krächzte er, um sich blickend. “Malen kann jeder, geschickt sind viele, gescheit sind wenige, ein Mensch ist keiner. Gebt mir einen ganzen Menschen, ein komplettes Individuum, das sich aufs Malen verlegt und so unerschöpflich im Finden, Formen und Färben, daß alles aus ist. Das ist’s, was ich von der Kunst verlange!” Was so ein Schlingel, dachte ich, nicht alles von der Kunst verlangt und noch mehr von seinem Schöpfer, denen er noch nie was geschenkt hat. Zwei berühmte Künstler, die eben vorüberschritten, machten dem Kritikus zwei ergebenste Bücklinge; denn Furcht heißt die Verfasserin des Komplimentierbuchs für alle. Als sie unter sich waren, nannten sie ihn Schafskopf.

Wie ihr wohl bemerkt haben werdet, meine Freunde, war ich entrüstet, und komplett war ich auch nicht. Entrüstung ist ein erregter Zustand der Seele, der meist dann eintritt, wenn man erwischt wird. Mit der Politik gab ich mich nur so viel ab als nötig, um zu wissen, was ungefähr los war. Vor wenigen Tagen war der größte Mann seines Volkes vom Bocke gestiegen und hatte die Zügel der Welt aus den Händen gelegt. Nun hätte man meinen sollen, gäb’s ein Gerassel und Kopfüberkopfunter. Doch nein! jeder schimpfte und schacherte und scharwenzelte so weiter und spielte Skat und Klavier oder sein Los bei Kohn und leerte sein Schöppchen, genau wie vorher, und der große Allerweltskarren rollte die Straße entlang, ohne merklich zu knarren, als wär’ er mit Talg geschmiert. Die Welt ist wie Brei. Zieht man den Löffel heraus, und wär’s der größte, gleich klappt die Geschichte wieder zusammen, als wenn gar nichts passiert wäre. Während ich noch hierüber nachdachte, fiel mir plötzlich was ein. So viel Wunderbares und Herrliches mir nämlich bisher auch begegnet war, ein wahrhaft guter Mensch war mir nicht vorgekommen. Nicht, daß ich mich so recht herzlich danach gesehnt hätte; es war nur der Vollständigkeit wegen. Wie ich munkeln hörte, sollte einer da und da, Hausnummer soundso, gleich draußen vor der Stadt leben; ein auffälliger Menschenfreund, dem der Besitz eine Last sei und das Verteilen ein Bedürfnis, und ich beeilte mich, ihm sofort einen heimlichen Besuch abzustatten. Er hatte grad von der Heerstraße, die vor seiner Tür vorüberführte, fünf das Land durchstreifende Wanderer hereingeholt. “Brüder!” so sprach er mild. “Tut, als ob ihr zu Hause wärt. Wir wollen alle gleich viel haben!”

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