Eduards Traum - Abschnitt 1

Manche Menschen haben es leider so an sich, daß sie uns gern ihre Träume erzählen, die doch meist weiter nichts sind als die zweifelhaften Belustigungen in der Kinder- und Bedientenstube des Gehirns, nachdem der Vater und Hausherr zu Bette gegangen. Aber! “Alle Menschen, ausgenommen die Damen”, spricht der Weise, “sind mangelhaft!” Dies möge uns ein pädagogischer Wink sein. Denn da wir insoweit alle nicht nur viele große Tugenden besitzen, sondern zugleich einige kleine Mängel, wodurch andere belästigt werden, so dürften wir vielleicht Grund haben zur Nachsicht gegen einen Mitbruder, der sich in ähnlicher Lage befindet. Auch Freund Eduard, so gut er sonst war, hub an, wie folgt:
Die Uhr schlug zehn. Unser kleiner Emil war längst zu Bett gebracht. Elise erhob sich, gab mir einen Kuß und sprach: “Gute Nacht, Eduard! Komm bald nach!” Jedoch erst so gegen zwölf, nachdem ich, wie gewohnt, noch behaglich grübelnd ein wenig an den Grenzen des Unfaßbaren herumgeduselt, tat ich den letzten Zug aus dem Stummel der Havanna, nahm den letzten Schluck meines Abendtrunkes zu mir, stand auf, gähnte vernehmlich, denn ich war allein, und ging gleichfalls zur Ruhe.Eine Weile noch, als ich dies getan, starrt’ ich, auf der linken Seite liegend, ins Licht der Kerze. Mit dem Schlage zwölf pustete ich’s aus und legte mich auf den Rücken. Vor meinem inneren Auge, wie auf einem gewimmelten Tapetengrunde, stand das Bild der Flamme, die ich soeben gelöscht hatte. Ich betrachtete sie fest und aufmerksam. Und nun, ich weiß nicht wie, passierte mir etwas Sonderbares.

Mein Geist, meine Seele, oder wie man’s nennen will, kurz, so ungefähr alles, was ich im Kopfe hatte, fing an sich zusammenzuziehn. Mein intellektuelles Ich wurde kleiner und kleiner. Erst wie eine mittelgroße Kartoffel, dann wie eine Schweizerpille, dann wie ein Stecknadelkopf, dann noch kleiner und immer noch kleiner, bis es nicht mehr ging. Ich war zum Punkt geworden. Im selben Moment erfaßte mich’s wie das geräuschvolle Sausen des Windes. Ich wurde hinausgewirbelt. Als ich mich umdrehte, sah ich in meine eigenen Naslöcher. Da saß ich nun auf der Ecke des Nachttisches und dachte über mein Schicksal nach. Ich war nicht bloß ein Punkt, ich war ein denkender Punkt. Und rührig war ich auch. Nicht nur eins und zwei war ich, sondern ich war dort gewesen und jetzt war ich hier. Meinen Bedarf an Raum und Zeit machte ich selber, ganz en passant, gewissermaßen als Nebenprodukt. Flink sprang ich auf und frei bewegt’ ich mich. Es war eine Bewegung nach Art der Schwebefliegen, die witsch Rose, witsch Nelke und weg biste! – an sonnigen Sommertagen von Blume zu Blume huschen. Zuerst mal schwebt’ ich nach meinem ehemaligen Körper hin. Da lag er; Augen zu, Maul offen, ein stattlicher Mann. Dann schwebt’ ich über Elisen. “Also so”, rief ich, “sieht der Vorgesetzte aus, wenn er schläft?” Hieraus, meine Lieben, könnt ihr ersehn, wie sehr ich mich im Traume zu meinen Ungunsten verändert hatte, indem ich es wagte, so frech und leichtsinnig einen Gedanken auszusprechen, den ich im wachen und kompletten Zustand doch lieber nicht äußern möchte. Darauf stand ich einen Augenblick über Emils Bettchen still. Sein kleines Händchen ruhte unter der Backe; die leere Saugflasche lag daneben.

“Ein hübscher Junge!” dachte ich. “Und ganz der Vater!” Ich sehe euch an, meine Freunde! Der zustimmende Ausdruck auf euern lieben Gesichtern beschämt mich, und doch muß ich mir ja sagen, daß ihr recht habt. Obwohl ich nun, wie erwähnt, infolge der traumhaften Isolierung meines Innern alle fünf Sinne, man möchte fast sagen, zu Hause gelassen, kam es mir doch vor, als bemerkte ich alles um mich her mit mehr als gewöhnlicher Deutlichkeit, selbst dann noch, als der Mond, der schräg durchs Fenster schien, bereits untergegangen. Es war eine Merkfähigkeit ohne viel Drum und Dran, was vielleicht manchem nicht einleuchtet. Die Sache ist aber sehr einfach. Man muß nur noch mehr darüber nachdenken. Um mal zu prüfen, ob ich überhaupt noch reflexfähig, flog ich vor den Spiegel. Richtig! Da war ich! Ein feines Zappermentskerlchen von mikroskopischer Niedlichkeit! “Wie?” rief ich, “hat man denn, nachdem man seinen alten Menschen so gut wie abgewickelt, doch noch immer was an sich? – Warrum nicht gaarrr!”
Hier unterbrach mich plötzlich eine Stimme mit den Worten: “Eduard, schnarche nicht so!!” Nur derjenige, welcher vielleicht mal zufällig durch ein redendes Nebelhorn in seinem Mittagsschläfchen gestört wurde, kann sich eine ungefähre Vorstellung davon machen, wie sehr dies Wort mein innerstes Wesen, man hätte meinen sollen für immer, ins Stocken brachte. Wohl drei ganze Sekunden verliefen, bis ich wieder zu mir selbst kam.
Die Sache hier paßte mir nicht. Ohne Rücksicht auf Frau und Kind beschloß ich, auf Reisen zu gehen.

Telegraphisch gedankenhaft tat ich einen Seitenwischer direkt durch die Wand, denn das war mir wie gar nichts, und befand mich sofort in einer freundlichen Gegend, im Gebiete der Zahlen, wo ein hübsches arithmetisches Städtchen lag. Drollig! Daß im Traume selbst Schnörkel lebendig werden! Der Morgen brach an. Einige unbenannte Ackerbürger vor dem Tore bearbeiteten schon zu so früher Stunde ihr Einmaleins. Diese Leutchen vermehren sich schlecht und recht, und wenn sie auch nicht viel hinter sich bringen, so wollen sie auch nicht hoch hinaus. Mehr schon auf Rang und Stand geben die städtischen Beamten. Man sprach viel über eine gewisse Null, die schon manchem redlichen Kerl im Wege gestanden, und wenn einer befördert würde, sagten sie, der’s nicht verdient hätte, dann steckte, so gewiß, wie zwei mal zwei vier ist, die alte intrigante Null dahinter. Im Villenviertel hausen die Vornehmen, die ihren Stammbaum bis in die ältesten Abc=Bücher verfolgen können. Ein gewisser x ist der Gesuchteste von allen, doch so zurückhaltend, daß täglich wohl tausend Narren nach ihm fragen, ehe ein Weiser ihn treffen kann. Andere sind fast zudringlich zu nennen. Zwei, denen ich auf der Promenade begegnete, stellten sich mir gleich zweimal vor. Erst der Herr a und dann der Herr b und dann der Herr b und drauf der Herr a, und dann fragten sie mit süffisanter Miene, ob das nicht ganz gleich sei, nämlich a + b = b + a? “Mir schon!” gab ich höflich zur Antwort. Und doch wußte ich nur zu gut, daß die Sache, wenigstens in einer Beziehung, nicht richtig war. Aber solch kleine Ungenauigkeiten aus verbindlicher Rücksicht können auch im Traume wohl mal vorkommen. –

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